"Der Arbeitsplatz ist ein Labor für den demokratischen Austausch“
Simone Orgel ist Trainerin beim Business Council for Democracy (BC4D), Jan-Jonathan Bock ist dort Projektleiter. Im Interview erläutern sie, wie Unternehmen ihre Mitarbeiter vor Hassrede im Netz schützen können und was das mit Demokratie zu tun hat.
Frau Orgel, Herr Bock, was genau ist eigentlich Hate Speech?
Simone Orgel: Hate Speech oder Hassrede ist kein rechtlicher, sondern ein politischer Begriff, der unterschiedlich definiert wird. In jedem Fall werden bewusst und gezielt Worte, Sprache und Bilder eingesetzt, um Menschen zu verletzen, abzuwerten und zu bedrohen. Betroffen sind oft ohnehin gesellschaftlich benachteiligte Menschen oder Menschengruppen, aber auch jene, die sich für ebendiese engagieren. Gerade gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist ein bekanntes Muster von Hassrede – oft mit strafrechtlicher Relevanz, wie bei Volksverhetzung oder Bedrohung. Wichtig ist, zwischen Meinung und Hassrede zu unterscheiden, was nicht immer einfach ist, wie der Fall der Politikerin Renate Künast zeigt. Sie hat auch demonstriert, wie wichtig es ist, sich zu wehren.
Wie groß ist das Problem mit Hassrede für Unternehmen derzeit?
Jan-Jonathan Bock: Eine aktuelle Forsa-Befragung zeigt, dass 76 Prozent der Befragten Hassrede im Internet begegnet ist, bei Menschen im Alter von 14 bis 24 Jahren sind es sogar 98 Prozent. Das deckt sich mit dem Feedback, das wir von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern unserer Trainings bekommen. Auch die Unternehmen sind davon nicht ausgenommen. Die Mitarbeitenden erleben Hassrede im Internet ebenso wie im Intranet der Firma. Gerade Letzteres scheint ein zunehmend verbreitetes Phänomen zu sein. Auch im Intranet? Dort wird doch mit Klarnamen kommuniziert.
Orgel: Studien zeigen, dass Klarnamen Menschen nicht daran hindern, gewalttätige Formulierungen von sich zu geben.
Bock: Das Problem geht über Unternehmen hinaus, denn auch beispielsweise Krankenhäuser oder kommunale Verwaltungen sind davon betroffen. Auch die Bahn, die bei uns im BC4D dabei ist, um ein nichtdigitales Beispiel zu nennen, versucht mit einem eigenen Projekt, speziell ihre uniformierten Mitarbeiter vor Hassrede zu schützen.
In welcher Zahl treten die Täter auf?
Orgel: Die gute Nachricht ist, dass die Anzahl der Täter gering ist, wie eine Analyse des ISD und der Initiative #ichbinhier zeigt. Die schlechte Nachricht ist, dass schon wenige ausreichen, um die Gesprächskultur zu vergiften. Die hassverbreitenden Nutzenden sind so laut und penetrant, dass sich andere Teilnehmende aus Debatten zurückziehen. Genau da setzen wir an: Wir müssen zurück zu einer Debattenkultur, die für unsere Gesellschaft funktioniert und andere nicht ausgrenzt.
Gibt es den typischen Hassredner?
Orgel: Nein, unter Menschen jedes Bildungsgrads, jedes Alters und Geschlechts finden sich solche, die menschenverachtendes Gedankengut verbreiten. Das haben internationale und deutsche Studien ergeben. Die Fallzahlen des Bundeskriminalamts 2020 zeigen jedoch, dass die politisch motivierte Kriminalität im Sinne von Hasspostings im Netz zugenommen hat, und zwar ganz besonders die von rechts.
Wie können Unternehmen ihre Mitarbeiter vor Hassrede aus dem Netz schützen, sei es das Internet oder das Intranet?
Bock: Eine Möglichkeit für Unternehmen ist, dieser Zielgruppe über Fortbildungen zu erklären, was dort stattfindet, was digitale Debattenkultur ist und wie sich durch die Digitalisierung des Diskurses die Demokratie verändert. Eine Herausforderung ist nämlich, dass ältere Mitarbeitende mit dieser Form der Kommunikation und Informationsbeschaffung über das Netz erst später in ihrem Leben in Berührung gekommen sind; für sie muss es Angebote geben.
Gibt es auch technische Lösungen für solche Herausforderungen?
Orgel: Hassrede ist in erster Linie eine Aufgabe für die Unternehmenskultur, die geprägt werden will, und es ist fraglich, ob ein menschliches Problem wie dieses technisch gelöst werden kann. Wichtig für Unternehmen ist, sich des Problems bewusst zu werden, um interne Strukturen aufzubauen, die Orientierung schaffen, wie ein interner Kommunikationsleitfaden oder auch eine Anlaufstelle für Betroffene. Langfristig müssen sich Unternehmen einen Werkzeugkoffer geben, mit dem sie sich und ihre Mitarbeitenden darauf vorbereiten, in einer – auch digitalen – Demokratie lebendige Debatten zu führen.
Wie sollten Unternehmen auf Hassrede reagieren, wenn sie geschehen ist?
Orgel: Sie ernst nehmen, wertebasierte Grenzen ziehen und sich klar solidarisch mit den Betroffenen zeigen. Für Mitarbeitende hilft es, erst einmal eine Runde um den Schreibtisch zu drehen, durchzuatmen und im Zweifelsfall: Hilfe holen, denn Hass ist keine Meinung. Ist ein Post unklar, ist es ratsam, noch einmal nachzufragen, ob das Gesagte wirklich so gemeint war. Dann ist Gegenrede ein wichtiges Signal. Dabei geht es weniger darum, dem Hassredner ein anderes Weltbild zu vermitteln. Sie zeigt jedoch den stillen Mitlesenden, dass eine Gegenposition existiert und esjemanden gibt, der sie einnimmt. Gegenrede kann unterschiedlich sein – oft reicht aber auch ein schlichtes „Ich stimme dem nicht zu“.
Bock: Wenn sich jemand im Intranet danebenbenimmt, ist Gegenrede wichtig, nicht nur von den Mitarbeitenden, sondern auch von der Organisation insgesamt. Unternehmen und besonders Führungskräfte sollten klare Kante zeigen im Sinne einer Klarstellung dessen, wofür sie stehen und wofür nicht.
Sie haben erwähnt, dass Unternehmen auch eine Verantwortung für die Demokratie haben. Wie meinen Sie das?
Bock: Zum einen gibt es hier einen Business Case, denn auch die Produktivität kann von einer guten Unternehmenskultur profi tieren. Wenn sich Unternehmen also Richtlinien setzen und Mitarbeitende unterstützen, geschieht das nicht nur aus ethischen Gesichtspunkten. Zum anderen ist der Arbeitsplatz ein Labor für den demokratischen Austausch, wo täglich Menschen mit unterschiedlichen Meinungen und Hintergründen aufeinandertreffen. Viele Unternehmen haben mittlerweile Diversity-Abteilungen, um Differenzen, die sich aus soziokulturellen Nischen, religiösen und weltanschaulichen Hintergründen ergeben, besser zu moderieren. Damit ist der Arbeitsplatz ein Labor für die gesamte Gesellschaft und kann einen wichtigen Beitrag zum Zusammenleben leisten. An kaum einem anderen Ort verbringen wir so viel Zeit. Arbeitgeber und Unternehmen spielen deshalb eine wichtige Rolle dabei, uns zu helfen, gute Demokratinnen, gute Staatsbürger und gute Mitbürgerinnen und Mitbürger zu sein.
Das Interview führte Michael Hasenpusch.
25.11.2021, Interview geführt von Michael Hasenpusch
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